Pommern 1946 - Teil 3

Der Vorgang der Ausweisung in Ostpommern usa_gb.jpgText in English

Ein Bericht des Pfarrers Werner Lindenberg aus Stolp i. Pom., Januar 1946

(Auszug aus: „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße“, herausgegeben vom ehemaligen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band I/2, Dokument Nr. 328, Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1993, Zwischenüberschriften wurden der leichteren Lesbarkeit wegen eingefügt )

Während in anderen Teilen des deutschen Ostens die Massenausweisung schon im Frühsommer begann, erfolgte ein systematisches allgemeines Vorgehen in Ostpommern etwa erst im Oktober 1945.

Eigenartigerweise gerade zu dem Zeitpunkt, da im britischen Unterhaus auf eine Anfrage hin die Erklärung abgegeben wurde, die unter den Deutschen Ostpommerns mit befreitem Aufatmen aufgenommen wurde, Vor dem Frühjahr würden jedenfalls keine weiteren Ausweisungen erfolgen. Außerdem, so wurde immer wieder erklärt, würden die Deutschen "in humaner Weise transferiert".

In 15 Minuten aus dem Haus getrieben

Wie es um diese menschliche Form der Umsiedlung bestellt war, habe ich dann in ungezählten Fällen mitzuerleben Gelegenheit gehabt. Es war ein gewohnter Anblick in den Straßen Stolps geworden, daß polnische Milizsoldaten deutsche Frauen oder Greise vor sich her stießen und mit Peitschenhieben und Kolbenstößen zum Bahnhof trieben. Die Tatsache, daß die Frauen oft mit vorgebundener Schürze und in Hausschuhen vorübergetrieben wurden, zeigte, wie plötzlich und völlig unvorbereitet diese Austreibungen erfolgten, die mit einer "Umsiedlung" auch von weitem keine Ähnlichkeit hatten. Gelegentlich wurde mir etwa an einem Grabe gesagt, die Kinder der Toten kämen nicht da man sie eben, als zum Friedhof zur Beerdigung der Mutter zu gehen im Begriff waren, aus der Wohnung geholt und zum Bahnhof geführt hätte. Auf dem Lande erfolgte die Ausweisung in der Form, daß größere Milizeinheiten im Morgengrauen ein Dorf umstellten und dann die Bevölkerung binnen fünf bzw. zehn oder fünfzehn Minuten aus den Betten geholt und oft nur ganz notdürftig bekleidet aus den Häusern gestoßen und in der Dorfmitte zusammengetrieben wurde. Das wenige Handgepäck, das diejenigen, die vorgesorgt hatten, beim plötzlichen Verlassen ihrer Wohnung noch greifen konnten, wurde ihnen häufig schon auf dem Wege zum Sammelplatz entrissen. Spätestens verloren sie es meistenteils auf dem Bahntransport.

Verbrannte Kirchenbücher

Ehe die Ausgewiesenen zum Bahnhof abgeführt wurden, hat man häufig allen von der Ausweisung Betroffenen einen Revers vorgelegt und die Unterschrift dann unter Gewaltandrohung, oft auch erst nach brutaler Mißhandlung, erzwungen. Ein Vordruck, den ich mir auf dem Stolper Rathaus von dein zuständigen Beamten übersetzen ließ, besagte, daß der Unterschreibende erklärte,

1. er verlasse Stolp freiwillig,

2. er stelle keinerlei Ansprüche an den polnischen Staat,

3. er werde nie wieder nach Stolp zurückkehren.

Daß der Pole vollendete Tatsachen zu schaffen sucht, zeigt auch der Umstand, daß er die Kirchenbücher und standesamtlichen Urkunden vernichtet, die das ostpommersche Gebiet eindeutig als urdeutsch ausweisen. So wurden z.B. in dem Dorf Weitenhagen, Kreis Stolp, durch den polnischen Bürgermeister die im evangelischen Pfarrhaus aufbewahrten Kirchenbücher beschlagnahmt und sogleich in einem Backofen verbrannt.

Plündernde Bahnbeamte

Noch schlimmer als alles, was vorangeht, ist dann der Bahntransport bis über die Oder. Das furchtbare Treiben beginnt bereits auf den Abgangsbahnhöfen. Mehrere Damen, unter ihnen die Witwe eines ostpreußischen Amtsgerichtsrats, die im Januar 1945 in den Kreis Stolp geflüchtet war, erzählten mir: Weil das Elend in ihrem Dorf gar zu unerträglich geworden sei, hätten sie sich entschlossen gehabt, freiwillig nach Westen abzuwandern. Mit einem Bündel, das ihre letzten Habseligkeiten enthielt, seien sie in den fahrplanmäßigen Zug in Stolp eingestiegen. Der Zug, der am Vormittag abfahren sollte, wurde am späten Nachmittag auf ein Abstellgleis gefahren. Bei Anbruch der Dunkelheit sei dann eine große Schar von polnischen Eisenbahnbeamten (!) über den Bahnkörper auf den Flüchtlingszug gestürmt, ein ohrenbetäubendes Getön von Trillerpfeifen habe eingesetzt, Pistolenschüsse wurden dicht über die Köpfe hin abgefeuert, Tränengaskörper in die Waggons geworfen, und in der allgemeinen schrecklichen Panik wurde sämtliches Gepäck von den Bahnbeamten geräubert. Die Damen erklärten, sie seien nun auch den Rest ihrer Habe los geworden. Aber sie wagten es nicht, freiwillig die Schreckensfahrt über die Oder anzutreten. Sie wollten abwarten, bis man sie hinausstieße.

Ich selbst war während des eigentlichen Transportes mit meinen Angehörigen nur geringfügigen Belästigungen ausgesetzt, da wir gegen Zahlung einer hohen Bestechungssumme (tausend Mark pro Kopf) in dem Waggon der polnischen Bahnpolizei mitfahren durften. Die übrigen Wagen wurden unterwegs von polnischen Milizsoldaten und russischer Soldateska völlig ausgeplündert. Von unserm Waggon wurden die Plünderer, die in Abteilungen von 50 bis 200 Mann laufend den Zug etwa eine Stunde lang im Wechsel begleiteten, durch die bewaffneten Bahnpolizisten abgewehrt. Auf der letzten polnischen Station Scheune wurde uns Insassen des geschützten Waggons freilich auch noch von unseren eigenen Beschützern im Verein mit polnischer Miliz der größte Teil unseres Gepäcks gestohlen. Und doch waren wir von Herzen dankbar, als wir völlig ausgeplündert die Grenze erreichten. Waren wir doch alle zusammen geblieben, wenn auch mein Vater im Russengefängnis gestorben und der Vater meines Schwagers von den Russen verschleppt und seither verschollen ist. Bis zum letzten Augenblick fürchteten wir noch, daß meine Verhaftung, die bereits angekündigt war, doch noch erfolgen würde. Außerdem gehörten wir zu den wenigen Menschen auf dem Bahnhof Scheune unter den Tausenden, die doch wenigstens ihre Mäntel und das, was sie sonst auf dem Leibe hatten, behalten hatten.

Anzüge und Schuhe ausgezogen

Unter den Ausgewiesenen befand sich auch das ganze Altersheim Stolpmünde. Diese armen 70- bis 80jährigen, meist fast hilflosen Menschen waren besonders brutal behandelt worden, gestoßen, geschlagen und nicht nur des Gepäcks, sondern auch ihrer Oberkleidung beraubt. Man hatte gerade den Alten nicht nur die Mäntel, sondern weithin auch die Anzüge und Schuhe ausgezogen.

Infolge des Hungers auf der langen Bahnfahrt, die von Danzig bis Scheune oft fünf Tage und länger dauert (die mitgeführten Lebensmittel werden meist geraubt), infolge der Mißhandlungen und der auszustehenden großen Schrecken sterben fast auf jedem Transport 20 und mehr Flüchtlinge. Dies erklärten deutsche Eisenbahner auf dem Grenzbahnhof. Dazu kommen jetzt noch die Einwirkungen der Kälte, die Ungezählten das Leben kosten dürfte. Denn trotz der Kälte wurde bisher die Ausweisung nicht gestoppt. Anfang Dezember 1945, als ich zum Verlassen meiner ostpommerschen Heimat gezwungen wurde, befanden sich in Stolp selbst schätzungsweise noch 20'000 Deutsche. Die Dörfer, die zu meinen Landgemeinden gehörten, waren etwa zur Hälfte noch dort. Die andere Hälfte war in den vorangehenden 14 Tagen in der weiter oben geschilderten Weise bereits hinausgetrieben worden. Die Ausweisung des Restes stand unmittelbar bevor. (hr)

Fotos

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Polnisches Propagandabild, das die Verteilung von Brot an Vertriebene im Bahnhof Bütow 1945 zeigt. Das britische Unterhaus sagte, die Deutschen würden „in humaner Weise transferiert“.
(Quelle: Kaschubisches Museum Bütow)

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Polnische Milizsoldaten und Offizielle überwachen die Vertreibung Deutscher aus dem Kreis Bütow im Jahre 1945
(Quelle: Kaschubisches Museumin Bütow)

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Deutsche Vertriebene werden 1945 in Lastwagen abtransportiert, deren Aufschrift „Poland“ noch die alliierte Herkunft zeigt.
(Quelle: Kaschubisches Museum Bütow)

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Ein Pole (links) kontrolliertt die Vertreibung Deutscher, meist Alte, Frauen und Kinder, aus dem Kreis Bütow im Jahre 1945
(Quelle: Kaschubisches Museum Bütow)


The Process of the Expulsions in Eastern Pomerania

Account by Pastor Werner Lindenberg from Stolp, Pomerania, January 1946

(Taken from: „The expulsion of the German population from the areas to the east of the Oder-Neisse Line“, published by the former German Federal Ministry for Expellees, Refugees and War Victims, Volume I/2, Document Nr. 328. Published by Weltbild Verlag GmbH, Augsburg,1993)

While in other parts of eastern Germany the mass exodus began already in early summer, an organized plan was not put into operation in eastern Pomerania until October 1945. Coincidentally, at the same time a declaration was made in answer to a question in the British House of Commons that there would be no more expulsions of Germans in eastern Pomerania before spring. An besides, as was stated again and again, the Germans were to be "transported in a humane manner". I had countless opportunities to see for myself just how humane this resettlement was. It was not an unusual sight in the streets of Stolp that Polish militiamen would drive German women and old people before them with whips and clubs to the train station. The fact that the women often still wore their aprons and house shoes makes evident how surprised and completely unprepared these expulsions progressed, having nothing in common with "resettlement". One time I was told at a burial that the children of the deceased were not present because just as they were preparing to go to the cemetery they were taken from their homes and directed to the train station. In the villages the method of expulsion used was for large militia units to position themselves around a village at dawn and then the inhabitants would be hauled from their beds and assembled in the village center on five, ten or fifteen minutes notice. What little handbaggage they were able to take with them was usually stolen from them before they reached the assembly point. At the very latest it was taken from them when they reached the train station. Before those to be expelled ever reached the train station they were presented with a document to sign, under threat and often after brutal mistreatment. A copy that I translated for the officials at the Stolp city hall stated that the undersigned declared:

1. that he was leaving Stolp of his own free will.
2. that he had no claim against the Polish state.
3. that he would never return to Stolp.

That the Poles intended to make this a permanent arrangement is proven by the fact that they destroyed the church records and any official documents showing that eastern Pomerania had been originally German. For instance, in the village of Weitenhagen, county of Stolp, the Polish mayor had the church records taken from the Lutheran parsonage and burned in an oven.

But worst of all was the rail transportation to the Oder River. The terrible experience began at the train stations. Several ladies, among them the widow of an East Prussian court official who had fled to county Stolp in January 1945, told me that because the misery in the village was almost unbearable she had decided to relocate to the west of her own free will. With a bundle that contained her last possessions she boarded a scheduled train in Stolp. The train, which was due to leave in the morning, was finally shunted to a siding late in the evening. As darkness fell a large group of Polish railway employees (!) stormed the refugee train with a deafening barrage of whistles, pistol shots were fired over the heads, tear gas grenades were thrown into the railcars and in the general panic some of the luggage was stolen by the railway employees. The lady said that she then lost the remainder of her possessions. She no longer dared to begin the journey of terror over the Oder. She wait until she was forced to leave.

I myself, because of a high ransom (one thousand marks per person) was able to secure transportation for my family with only minor disturbances because we were allowed to ride in a rail car reserved for Polish railway police. The other cars were plundered by Russian soldiers and Polish militiamen. The plunderers, who in groups from 50 to 200 controlled the train for an hour, were prevented from attacking our car by the armed railway police. At the last station in Scheune those of us in the protected car had most of our luggage stolen because our protectors were in league with the plunderers. But although we had been completely robbed, we were grateful in our hearts to finally reach the border. We all remained together, except for my father, who died in a Russian prison, and the father of my brother-in-law, who was transported by the Russians and disappeared. Until the last minute we feared that my arrest, which was already scheduled, would take place before we could leave. Besides, we belonged to the few people among thousands at the station in Scheune, who at least had kept their coats and what they wore next to their bodies.

Among the expellees was also the entire Stolp old peoples home. These poor 70 to 80 year-olds, mostly helpless people, were mistreated and beaten, had, not only their baggage, but also their outer garments stolen. Not only were their coats taken, but also their clothes and shoes.

As a result of hunger on the long rail journey, which often took five days and even more from Danzig to Scheune (food that was brought alone was usually stolen), and as a result of the mistreatment and terror, 20 or more refugees died on every train. This came from the German railway workers at the border station. To that must be added the effects of the cold that cost the lives of many. And, in spite of the cold, the deportations were not stopped. At the beginning of December 1945, as I was forced to leave my home in eastern Pomerania, there were still about 20,000 Germans in Stolp. Of the villagers who belonged to my congregation, about half remained. The other half had already been expelled in the manner described above. The remainder still had their expulsion before them.